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Herztransplantation Seite 15 von 17

Erfahrungsberichte

Diagnose Herztransplantation

„Die Geschichte von Marcel”

Marcel ging es eigentlich nach seinem Empfinden sehr gut. Durch die Herzoperationen und mit der Sicherheit die ihm sein Herzschrittmacher seit dem 5. Lebensjahr gibt, hatte er keinen Grund zur Sorge um seine Zukunft. Seine Ängste, durch die weiterbestehende Einschränkung seiner körperlichen Leistungsfähigkeit nach der letzten Herzoperation, wurden mit einem Medikament beseitigt, das seine Herzleistung wieder verbesserte. Die Wassertabletten ließen seine Ödeme verschwinden. Zwar musste die Dosis der Medikamente wiederholt erhöht werden, aber die Ärzte hatten ihm ja erklärt, dass dies wegen seines fortschreitenden Wachstums notwendig ist. „Du musst jetzt deinen Körper wieder trainieren”, hatte der Professor geraten und die Umsetzung dieses Rates führte zu immer besserem Leistungsvermögen.

Alles schien für ihn so einfach. Immer dann, wenn schnelle Ermüdbarkeit, Atemnot, Appetitlosigkeit und Verdauungsprobleme zurück kamen, verhalf eine höhere Medikamentendosis wieder zu Wohlbefinden. Das bedeutete zwar, dass er wohl ein Leben lang viele Medikamente einnehmen muss, aber er empfindet es nicht als Last, sondern als den normalen Alltag eines jugendlichen Herzpatienten mit angeborenem Herzfehler. Und wenn er doch mal seine körperlichen Grenzen mit Ärger registrierte, dann erinnerte ich ihn vorsichtig an die schlimme Zeit, als er durch Klinikaufenthalte und Hausunterricht den Kontakt zu seinen Freunden verlor. Dies machte ihn wieder mutig seine Probleme zu meistern. Also fühlte er sich fit und gut versorgt für das Leben und die sichere Zukunft, in der er einmal als Verlagskaufmann der Literatur gute Dienste leisten will.

Und dann wurde plötzlich alles ganz anders. Schnelle Ermüdbarkeit, Übelkeit, Bauchschmerzen, schmerzliche Stiche in der Brust und das beängstigende Gefühl salvenartig auftretender unregelmäßiger Herzschläge, die ihn nachts im Schlaf störten, trübten zunehmend seinen gewohnten Alltag. Vorstellungen in der Dispensairsprechstunde und weitere Steigerungen der Medikamente führten zu keiner dauerhaften Verbesserung. Immer häufiger erwachte er morgens mit dem Gefühl der Abgeschlagenheit und im Spiegel musste er sein verändertes Aussehen durch Lidödeme wieder akzeptieren lernen. In der Schule viel er auch wieder auf, weil er die Treppen nur mit Mühe schaffte. Immer häufiger wurde er auf sein verändertes Aussehen, wie bläulich schimmernde Lippen und gelblich verfärbte Haut, von Lehrern und Mitschülern angesprochen. Gerade diese Beobachtungen anderer hatte er gehofft nicht mehr spüren zu müssen. Er wollte ein Schüler wie jeder andere sein, hatte sich dies ja erst wieder erfolgreich erkämpft und neue Freunde gefunden.

Immer häufiger stieß Marcel an unverrückbare Leistungsgrenzen, musste er sich in seinen Aktivitäten einschränken. In der Schule und in seiner Jugendgruppe konnte er nicht mehr so mithalten, weil ihn starke Kopfschmerzen plagten, die Luft zum Singen und Tanzen nicht mehr reichte und die Wege zu beschwerlich wurden. Ihn deprimierte, dass Untersuchungen durch Langzeit-EKG und Ultraschall keinen Rückschluss auf seine Beschwerden ergaben und damit auch keine Veränderung seiner Situation möglich wurde.

Sehr behutsam bemühten wir uns darum bei ihm das Verständnis für seine Situation zu erhalten. Seine bohrenden Fragen, ob nicht doch eine Operation helfen könnte, konnte und wollte nicht ich ihm beantworten. „Wir reden mit Deinem Professor darüber”, schlug ich vor. „Erzähle ihm von deinen Schwierigkeiten und er wird dir sagen, welche Möglichkeiten für Dich bestehen.”

Aber der Professor erklärte ihm seine Situation nicht. Enttäuschung und Wut gegen sich selber machten sich in Marcel breit. Er verstand nicht warum der Professor, der ihm schon einmal mit dem neuen Medikament aus einem gesundheitlichen Tief geholfen hatte, jetzt offenbar der Ansicht war, dass er sich alles nur einbilde und zuviel auf seine „Wehwehchen” gebe. Marcel suchte vergeblich nach einer Erklärung dafür, dass die Blut-, EKG-, und Ultraschalluntersuchungen nicht ergaben, warum er mehr und mehr an Grenzen seiner Belastbarkeit stieß. War jetzt auch dieser Professor am Ende seiner Möglichkeiten? Dabei hatte er ihn doch erst vor 2 Jahren kennengelernt. Und als keiner mehr Rat wußte hatte der die Idee mit dem anderen Medikament, welches ihm die Schule und sogar mehr als die vorhergehenden Jahre erlaubten, zurück brachte. Musste er denn wieder zurück in die Isolation des Hausunterrichtes um wenigstens seine Ziele in der Schule verwirklichen zu können?

„Ich will in die Schule gehen und das nicht mit Kopfschmerzen die mich an der Konzentration hindern. Ich will weiter mit meinen Freunden zusammen sein können, wann immer wir etwas unternehmen wollen. Und ich will auch von den Lehrern wieder als normaler Junge wie alle anderen in meiner Klasse behandelt und nicht aus Angst von Klassenfahrten und Wanderungen ausgeschlossen werden.”

Meine Überlegung, dass man vielleicht noch einmal die Klinik wechseln und eine Klinik in der Nähe wählen sollte, wollte er nicht gelten lassen. Schließlich hatte er Vertrauen zu seinen Ärzten und außerdem konnte er ihre Bedenken, dass die Entfernung von etwa 700 Km zur Klinik auch mal ein Problem werden könnte, nicht nachvollziehen. Er war überzeugt davon, dass doch bald etwas gefunden werden kann, was seine Belastbarkeit wieder steigert und seine Beschwerden insgesamt beseitigt. Und er beschloss geduldig darauf zu warten.

Doch dann kamen Tage, die ihn sehr ängstigten. Immer wieder begann er nach zum Teil geringfügiger Belastung am ganzen Körper zu zittern. Seine Haut verfärbte sich blau und Stiche in der Brust, sowie das Verspüren schneller Herzschläge schienen ihn am Atmen zu hindern. Ein Telefongespräch mit den Ärzten im Herzzentrum ergab, dass es zur Zeit denkbar ungünstig mit einem Vorstellungstermin sei und dieses frühestens in drei bis vier Wochen erfolgen könne. Es wurde nochmals darauf verwiesen, dass die Untersuchungen bisher immer ergebnislos verliefen. Bei zu großer Angst sollte sich Marcel in einem nahe gelegenen Herzzentrum vorstellen. Die angeratene Überprüfung der Herzschrittmacherfunktion am Wohnort ergab dann auch nichts besonderes, außer den dringenden Rat dieses Arztes an Marcel sich in seinem Herzzentrum vorzustellen. Marcel empfand diesen Verlauf als Interessenlosigkeit und beschloss kein Herzzentrum mehr aufzusuchen.

Die Beschwerden nahmen an Heftigkeit und Häufigkeit in den folgenden Tagen zu. Auch die Ödeme in Gesicht und Armen wurden mehr. Als ich dann auch noch in die Schule gerufen wurde um ihn sofort aus dem Krankenzimmer abzuholen und dort kategorisch aufgefordert wurde endlich etwas zu unternehmen, verstärkte sich meine Unruhe und Ratlosigkeit. An diesem Abend verfärbte sich plötzlich Marcels Haut am ganzen Körper bläulich und wie aus heiterem Himmel verlor er die Kraft zu stehen. Frierend und zitternd, geplagt von einem nun deutlich registrierbaren schnellen, unregelmäigen Herzschlag und starken Kopfschmerzen, lag er ängstlich in seinem Bett und bat mich doch irgendetwas zu unternehmen. Nach knapp einer halben Stunde schlief er erschöpft ein. Sein Herzrhythmus normalisierte sich und seine Hautfarbe wechselte zu einer ausgeprägten Blässe. Aber sein Körper wurde wieder warm.

In den letzten Monaten hatte ich die Entwicklung mit zunehmender Sorge beobachtet und schon häufig an die Erklärung von Marcels Herzchirurg gedacht. Der hatte mir gesagt, dass die Behandlung mit den Medikamenten irgendwann erschöpft sein würde und zukünftig auch keine Korrekturoperation, sondern nur noch eine Herztransplantation helfen könne. Aus dem Grund hatte ich auch versucht Marcel an dieses Thema heran zu führen, indem ich ihn in gespielter Zufälligkeit auf Presseberichte und Fernsehreportagen zur Herztransplantation aufmerksam machte. Marcel fand es toll, dass es für die schwerkranken Menschen diese Möglichkeit gab, aber mit seiner eigenen Situation brachte er es absolut nicht in Verbindung.

Und ich hatte mich darauf verlassen, dass ihn die Ärzte rechtzeitig und angemessen an dieses Thema heranführen würden. „Sind jetzt etwa die Vorboten dafür da”, fragte ich mich nun, „und wenn ja, warum spricht es niemand an?” In meiner Ratlosigkeit suchte ich jemanden zum Reden und rief Freunde an. Deren Kind hatte vor vier Jahren infolge eines angeborenen Herzfehlers eine Herztransplantation in Marcels Herzzentrum erfolgreich überstanden. Sie hatten lange dafür gekämpft, denn an den Erfolg glaubte außer ihnen niemand.

Die Freunde reagierten mit Unverständnis auf den bisherigen Verlauf. Sie rieten dringend sich sofort mit den Transplantationsärzten ihres Kindes in der Klinik telefonisch in Verbindung zu setzen, bei so viel Ähnlichkeiten im Verlauf der letzten Monate zu ihrer eigenen Erfahrung. So schwer mir dies auch fiel, ich weckte Marcel um mit seinem Einverständnis anrufen zukönnen. Es war längst üblich geworden, dass er für sich entschied. Er stimmte dem Anruf zu. Die Beschreibung der Situation war unerwartet leicht, denn schon nach wenigen Worten hatte der Arzt die Gesprächsführung übernommen und das seit langem fehlende Gefühl der Sicherheit zurück gegeben. Er riet sofort einen Arzt zu holen, ein aktuelles EKG schreiben zulassen und dann das Ergebnis gleich mitzuteilen. Eine stationäre Aufnahme in den nächsten Tagen wurde allerdings auch gleich festgeschrieben.

Der Notarzt, sichtlich erschrocken über Marcels Aussehen, brachte ihn umgehend auf die Intensivstation unseres Krankenhauses. Ein Versuch erneut auftretende Herzrhythmusstörungen im EKG festzuhalten mißglückte dem Pfleger und am Morgen forderten die Ärzte von Marcel sofort ein anderes, nahe gelegenes Herzzentrum aufzusuchen, oder zum Hausarzt zu gehen, weil seine Situation nicht sicher einschätzbar sei.

Er begann zu resignieren. In der Schule hatte man Angst vor ihm, weil man glaubte ihm könne dort etwas passieren. Untersuchungen ergaben nichts. Der Hausarzt schien ebenfalls mit der Sache überfordert. Wieder eine neue Klinik und neue Ärzte wollte er eigentlich auch nicht. Liebevoll umsorgt von seinem 5 Jahre jüngeren Bruder und viele offene ehrliche Gespräche in jeder freien Minute die mir neben meinem Berufsalltag blieben, hielten dennoch sein Vertrauen auf Lösungswege wach, denn für vier Tage später war der Termin in seinem Herzzentrum anberaumt.

Obwohl Marcel die vergangenen Tage zu Hause mit viel Ruhe verbracht hatte, war er schon nach zwei Stunden Autofahrt wieder total erschöpft und schlief ein. Auch als er nach sechs weiteren Stunden im Herzzentrum eintraf, wollte er nur noch ruhen und schlief nach der Aufnahmeuntersuchung sofort ein. Selbst die Signale seines Überwachungsgerätes weckten ihn nicht. Am anderen Tag wurden umfangreiche Untersuchungen durchgeführt. In jeder Abteilung sagte man ihm, dass sein Herz zwar sehr krank sei, ihm aber mit einer Operation sicher geholfen werden kann. Marcel fasste langsam wieder Vertrauen und war froh darüber, endlich seine Grübelei, ob er sich möglicherweise nicht doch alles einbilde, beenden zu können. Dass er auf einer Station untergebracht war, die Patienten nach einer Herztransplantation betreute, nahm er mehr oder weniger interessiert zur Kenntnis, brachte es aber absolut nicht mit seiner eigenen Situation in Verbindung.

Am Nachmittag kam sein neuer Arzt zu ihm, zog sich einen Stuhl an sein Bett und fragte wie nebenbei ob er sich schon einmal Gedanken zu einer Herztransplantation gemacht habe. Es schien als pralle diese Frage an ihm ungehört ab, aber sein Blick verriet mir seine tiefe Bestürzung. Um die Situation zu entkrampfen gab ich deshalb zu bedenken, dass Marcel bisher keinen Anlass hatte darüber nachzudenken, insbesondere weil ihm gegenüber noch nie ein Arzt solche Gedankengänge anregte. Mit wenigen Sätzen wurde Marcel über die bestehenden Möglichkeiten und Risiken einer Herztransplantation aufgeklärt und aufgefordert sich in den nächsten Tagen zu entscheiden. Als der Arzt gegangen war viel Marcel in sich zusammen.

„Ich habe doch noch soviel vor. Warum kann man mein Herz nicht einfach noch einmal operieren? Warum hat man mir nie gesagt, dass dies einmal auf mich zukommen kann? Ich weiß doch nichts über eine Herztransplantation. Was soll ich damit anfangen zu wissen wieviel es schaffen und wieviel nicht, wenn ich sowieso keine andere Wahl habe?”

Einerseits konnte er es sich für sich selbst nicht vorstellen, dass man sein Herz entnehmen und ein anderes einpflanzen kann, ohne das er stirbt. Andererseits drängten sich ihm spontan unzählige Fragen auf, wie es mit einem Spenderherz sein würde zu Leben. „Werde ich dann wirklich weiter in die Schule gehen und meinen Wunschberuf lernen können? Kommt jetzt wieder der Hausunterricht auf mich zu, oder werde ich wenigstens bald wieder so fit werden, dass ich weiter zur Schule gehen kann? Ist das dann wirklich die letzte Operation und wenn nicht, was kommt danach?” Auf seine unzähligen Fragen wartete er zunächst keine Antwort ab, sondern brachte neue hervor. Schließlich wurde er still und weinte. Ich nahm ihn in den Arm und begann seine Fragen so gut ich konnte zu beantworten. Viele Stunden saßen wir so da und redeten über die Herztransplantation und seine Zukunft. Zwischendurch rief er seinen Bruder an, der zu Hause bei Freunden geblieben war um die Schule nicht zu versäumen. Eigentlich hatten sie seit Jahren alles gemeinsam getragen und deshalb fehlte er ihm nun besonders stark. Weil auch sein Bruder bei ihnen sein wollte holte ich ihn nach.

In dieser Zeit vermittelte man Marcel ein Gespräch mit einem Herrn der seit einigen Jahren mit einem Spenderherz lebte, um Marcel bei der Verarbeitung der Diagnose zu helfen. Dieser hatte die Thematik sehr schnell und locker abgehandelt. Wichtige Fragen, wie man z. B. mit dem Wissen leben kann, dass man in sich das Herz eines Toten, eines Fremden trägt, blieben unbeantwortet.

Als ich mit dem Bruder zurück kam war Marcel frustriert und nicht mehr bereit über die Herztransplantation zu reden. Er hoffte die Diagnose sei ein Irrtum. Trotzdem, die folgenden Tage fanden wir gemeinsam immer öfter zurück zu unserem üblichen lustigen Umgang miteinander. Daneben erinnerten Marcel die untersuchenden Ärzte und des betreuenden Pflegepersonals mit ihrer Einschätzung, dass die Notwendigkeit einer Herztransplantation möglicherweise schon sehr nah sei, daran, dass er sich mit der Diagnose aber doch auseinandersetzen muss. Langsam begann er wieder über seine Situation zu reden. Er hoffte darauf noch viel Zeit zu haben, um sich in Ruhe über die Herztransplantation und ihre Folgen informieren und eine wirkliche Entscheidung treffen zu können. Eine abschließende Herzkatheteruntersuchung ergab, dass er diese Zeit wohl doch noch hat. Auf der Heimreise herrschte wieder die übliche optimistische und lustige Stimmung vor. Marcel hatte sich in der Klinik trotz aller Aufregung erholt und begonnen seine Situation zu akzeptieren. Dass die Reise ihn sehr anstrengte war für ihn kein Problem mehr.

Seit dem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Marcel hat inzwischen wieder Hausunterricht. Den Kontakt zu seinen Freunden hat er diesmal nicht verloren. Einige offene Gespräche mit ihnen haben zu einem Ergebnis geführt, dass er nicht missen möchte. Er wird in alles einbezogen ohne dass er permanent nach seinen Möglichkeiten befragt wird. Muss er mal ein gemeinsames Vorhaben absagen, dann bleibt er trotzdem informiert und integriert.

Es gibt Momente, da fällt es Marcel schwer seine Situation länger zu ertragen, z.B. als seine Freundin sich wegen seiner Einschränkungen abwandte. Aber er hat seine Ziele abgesteckt und er glaubt fest daran, dass er seine Ziele erreichen wird. Er ist bemüht auch in seinem stark eingeschränkten Aktionsradius möglichst viel Lebensqualität zu haben. Das Thema Herztransplantation ist für ihn kein Thema mehr, sondern eine wichtige Etappe auf seinem Weg in ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben.

Karin N.
- März 1996 -
Copyright, © 1996 Karin Nebeling           infobox
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